Angst: Wie wir den TSUNAMI 2004 überlebten
Strand von Narigama am Ende von Hikkaduwa, Sri Lanka
Es ist morgens kurz vor halb zehn. Wir liegen wach auf unseren Betten in einem kleinen Zimmer direkt am Strand von Narigama am Ende von Hikkaduwa. Fünf Zimmer im Erdgeschoss und fünf im ersten Stock – das ist unser Guesthouse, eine Art Pension.
Als wir vorgestern ankamen, hat man uns ein Zimmer im ersten Stock zugewiesen, aber Gabi , meine Frau, will lieber im Erdgeschoss wohnen. Also sind wir nach unten umgezogen.
Es ist ein wunderschöner Morgen, wolkenlos und sonnig. Alles ist ruhig.
Ich habe mir gerade die Badehose angezogen, als ein fürchterliches Brausen, Donnern und Heulen ertönt. Wir erstarren, können aber das Geräusch nicht einordnen.
Was wir nicht sehen können: Eine Wasserwand rollt vom Meer auf uns zu, richtet sich am Strand zu mehrfacher Größe auf, über die Palmen hinweg und zerschlägt dann alles, was ihr in den Weg kommt.
Ich höre platschende Füße an unserem Zimmer vorbei rennen – eine Hand, die kurz zweimal gegen unsere Türe schlägt.
Ich öffne die Türe und erstarre kurz. Sehe links kleine Häuser unter dem Anprall der Wogen zusammenbrechen, sehe wie Menschen in Todesangst um Hilfe schreien und wie die Flut in unser Zimmer eindringt. Das Wasser steigt dabei treppenstufenartig immer höher.
Ich schreie Frau und Tochter an, die nur mit einem Slip bekleidet sind: Raus – sofort raus!
Meine Frau rafft noch ein Bettlaken an sich und kämpft sich zusammen mit unserer Tochter Samira aus dem Zimmer.
Sofort beginnt der verzweifelte Kampf mit den harten Wellen und all den Dingen, die das Meer vor sich herschiebt: Tische, Stühle, Liegen, Kühlschränke, Balken, halbe Dächer – alles wird durch die starke Strömung mitgerissen und behindert einen im Vorwärtstaumeln. Links schreit eine einheimische Frau um Hilfe. Ihr Häuschen ist eingestürzt und sie befindet sich in einem Strudel. Doch wie soll man helfen, wenn man sich selbst in den Wellen nicht helfen kann?
Meine Frau treibt in den Wellen und der starken Strömung nach rechts ab und erreicht die andere Seite der überfluteten Straße, wo sie sich an eine Mangrove klammert. Eine massive Sonnenliege aus Holz klemmt sie dort ein, so dass sie nicht höher klettern kann. Ich kann sie gar nicht sehen, weil ich mit unserer Tochter nach links abgetrieben werde. Auch wir erreichen die gegenüberliegende Seite der Straße und klammern uns verzweifelt an einer Mangrove fest. Ich versuche unsere Tochter gegen das harte Treibgut, das die Strömung heranwirbelt, so gut es geht abzuschirmen. Plötzlich treibt ein korpulenter Mann von links auf uns zu. Seine Augen sind entsetzlich weit aufgerissen. Er wirkt wie irre. Ich schreie verzweifelt, weil er genau auf uns zu treibt.
Bei dem Aufprall seines Körpers verliere ich den Halt und stürze in das Wasser des etwas tiefer gelegenen Mangrovensumpf und gehe sofort unter. Ich werde am Boden hin und her gewirbelt und meine Versuche, mich wieder aufzurichten, werden von dem Druck der Wellen zunichte gemacht.
In diesem Moment glaube ich dem Ende nahe zu sein. Gedanken, Frau und Kind nicht beschützt zu haben, gehen mir durch den Kopf. Das Kind vor drei Jahren aus dem Waisenhaus gerettet zu haben, damit es jetzt hier sterben muss, sind zuletzt meine Gedanken. In unserem Dorf werden sie sich sicher deswegen das Maul zerreißen. Danach werde ich unnatürlich ruhig………. Plötzlich erfasst meine Hand die harte Wurzel einer Mangrove. Ich ziehe mich Stück für Stück hoch und bekomme den Kopf über Wasser, sehe zurück, wo sich unsere Tochter zuletzt festgeklammert hat und reiße die Augen auf. Sie ist noch da! Für mich ein Wunder! Noch immer klammert sie sich fest an den kleinen Stamm. Ich schreie sie voller Panik an: Samira – halt dich fest – halt dich fest!
Später habe ich sie gefragt, was sie in diesen Momenten gedacht hat.
Ihre Antwort: „ Ich habe nur daran gedacht, dass ich nicht ertrinken will. Und als ihr weg wart, habe ich gedacht, kaum habe ich einen Papa und eine Mama, habe ich sie schon wieder verloren.“
Ich müsste lügen, wenn ich sagen könnte, was dann in den nächsten Minuten geschieht. Es ist ein Loch in meinem Kopf. Die Erinnerung setzt erst wieder ein, als das Wasser abfließt und ich oben auf der Straße auch meine Frau wieder treffe.
In dem Moment gibt es noch nicht einmal so etwas wie Freude. Wir spüren, wir sind weiterhin in großer Gefahr. Da die erste Flutwelle sich zurückgezogen hat, humpeln wir so gut es geht in Richtung zu unserem Zimmer. Zwei junge Männer sind schon da und retten die leeren Colakästen eines nahe gelegenen kleinen Restaurants. Später werden wir darüber nur den Kopf schütteln. Wegen der losen Stromkabel warnt man uns: Danger – danger!
In der Öffnung des Nebenzimmers, das Wasser hatte die Türen und Fenstern zertrümmert, erscheint eine totenbleiche Frau mit ihrer kleinen zehnjährigen Tochter. Sie hat die Wasserwand, die sich am Strand bis in eine Höhe von zwanzig Metern aufbaute und dann über den Palmen zusammenbrach, von der Türe ihres Zimmers aus gesehen und ist in Panik zurück in ihr Zimmer gerannt. Dort hat sie ihr kleines zehnjähriges Töchterlein auf eine Matratze gebettet, als die Wellen durch das Fenster in ihr Zimmer stürzen und gehofft, dass die Matratze auf der Oberfläche des Wassers schwimmen würde. Sie selbst stand auf Zehenspitzen daneben. Das Wasser war ihr bis zum Hals gestiegen.
Sie will sich jetzt nur noch in Sicherheit bringen und ich gebe ihr Samira mit, weil wir jeden Moment mit dem Eintreffen der zweiten Welle rechnen müssen, vor der man uns gerade warnt.
Trotzdem wühlen wir im Müll nach Gegenständen, die uns gehören. Es ist wahnsinnig, wie man sich in einer solchen Situation über jedes Teilchen freut, das einem gehört.
Wir finden Samiras Tasche mit ein paar Kleidungsstücken und den kleinen Rucksack meiner Frau mit Papieren und Geld. Meinen Mini – Rucksack hatte ich auf der Flucht mitgenommen. Da er aber offen war, waren alle meine Papiere (Pässe, Geld, Kreditkarten, Führerschein) durch die Wellen herausgerissen worden. Ich finde ein klatschnasses Taschenbuch von mir und nehme es mit. Auf der Rückseite des Buches werde ich einen Tag später unsere Flugtickets wie angeklebt finden, als ich das Buch wegwerfen will.
Plötzlich ein Schrei: The Wave – the second wave – sea is coming – die zweite Welle – das Meer kommt zurück!
Der Sog des Tsunami, der weiter Richtung Afrika rollte, hatte das Meer vorher vom Strand weggezogen und den Meeresboden für ca. 350 Meter freigelegt. Jetzt, als dieser Sog nachlässt, kommt es brüllend wieder zurück.
Wir rennen voller Panik weg. Unsere Beine bluten von Schnitt-, Platz- und Schürfwunden, die wir uns in der ersten Welle zugezogen haben. Wir spüren sie nicht!
Barfuß laufen wir immer weiter ins Landesinnere – nur fort vom Strand.
Da meine Beine voll blutender Verletzungen sind, nimmt mich ein mitleidiger Motorradfahrer mit und liefert mich bei Einheimischen ab. Dort treffe ich auch wenig später meine Frau wieder, die noch immer nur ihr nasses Bettlaken um den Körper geschlungen hat. Aber wo ist Samira, unsere Tochter?
Wo ist die Frau mit Samira und ihrer Tochter hingegangen? Hat sie sich überhaupt in Sicherheit gebracht oder hat sie sich in ihrem Schock einfach irgendwohin gesetzt?
Eine Stunde Angst, Ungewissheit und Anflüge von Panik bei meiner Frau. Wir hören, dass die zweite Welle noch schlimmer gewesen wäre als die erste Flutwelle und die Angst und Panik steigern sich, bis unsere Tochter dann doch unversehrt zu uns gebracht wird.
Weitere Touristen tauchen auf und werden von den Einheimischen liebevoll verpflegt. Sie teilen ihr bisschen Reis und Kokosnussmilch mit uns.
Wir erfahren, dass die Frau, die ich um Hilfe hatte schreien hören, gerettet worden war. Vom ersten Stock unseres Guesthouses hatte ihr ein Mann eine Wäscheleine zugeworfen, die sie tatsächlich ergreifen konnte.
Für Ihre Nachbarin kommt jede Hilfe zu spät. Ihre Leiche findet man ohne Kopf am Strand. Ein herabfallendes Dach hat sie enthauptet.
Abends sitzen Gabi und ich vor dem Haus der Einheimischen und hören voller Furcht, wie gegen 21 Uhr die dritte Welle mit der Flut kommt. Wir sind bestimmt drei Kilometer vom Strand entfernt und zwei große Hügel trennen uns zusätzlich, aber wir haben erbärmliche Angst, als wir das Brausen und Toben vom Meer her hören.
Nach einer fast schlaflosen Nacht humpeln wir am Morgen zum buddhistischen Tempel hoch, der auf einem dieser Hügel steht. Unterwegs werden wir immer wieder von Leuten, die aus ihren Hütten treten, gefragt, ob wir zu essen brauchen und besonders, ob unsere Tochter Hunger habe. Im Tempel werden wir wieder liebevoll aufgenommen und meine Wunden werden von einer deutschen Krankenschwester, die eigentlich Urlaub machen wollte, versorgt. Ich darf mich sogar in eines der Betten der Mönche legen. Ein deutscher Arzt aus Plön lehnt jede Hilfeleistung ab, er wäre hier in Urlaub und nicht um hier zu arbeiten. Klasse Einstellung!
Gegen Mittag erscheint dann ein smarter, gut deutsch sprechender Singhalese. Aus „reiner Menschenfreundlichkeit“ offeriert er uns, einen Van nach Kandy ins Landesinnere zu chartern – für 100 Euro pro Person. Der reguläre Preis ist 30 Euro für den ganzen Bus inkl. Fahrer. Ganz gezielt sucht er sich die Frauen mit der größten Panik heraus und spricht sie an. Ich bin wütend über so viel Unverschämtheit, sehe aber in Gabis Augen genau diese Panik. Sie will um jeden Preis weg. Abends um 22 Uhr sind es sieben Leute, die sich mit dem Bus in Bewegung setzen. Eine Stunde vor Abfahrt bringen uns tatsächlich Einheimische, Freunde von uns, unseren Koffer mit ein paar unserer Kleidungsstücke. Stinkend von der Brühe des Wassers und total versifft. Egal! Vielen Dank!
Anstatt, wie versprochen, direkt nach Kandy zu fahren, fährt der Fahrer unseres „Wohltäters“ zum Colombo – Airport. Dort steigt dieser aus, um mit seiner (deutschen) Mieze nach Deutschland zu fliegen.
Prima gemacht! Kostenlos zum Airport gebracht worden und nebenbei 700 Euro von panikerfüllten Touristen eingesackt.
Als der Fahrer uns dann noch nach Kandy bringt, kommt die nächste Überraschung. Die erste Frage des Hotelmanager lautet: „Haben Sie Pässe und genug Geld?“ Wer das nicht bejahen kann, wird abgewiesen oder sogar wieder hinausgeschmissen. Dieses erleben wir mehrfach. Der Tarif für ein Zimmer war übrigens verdoppelt worden.
Soviel zur Gastfreundlichkeit der wohlhabenden Klasse. Während die einfachen, armen Leute, ihre letzte Schüssel Reis teilen, bereichern sich diejenigen, die sowieso genug haben.
Wir bleiben vier Tage in diesem Hotel und erfahren die ganze Hilflosigkeit der verschiedenen Botschaften, ihre Lügen und Ausflüchte. Es ist klar, dass alle völlig überfordert sind.
Am Flughafen Colombo lässt man am ersten Tag keine Touristen ohne Pass in das Gebäude, bis die deutsche Botschaft interveniert und endlich auch die österreichische Botschaft für einen Arzt sorgt. 5000 Menschen und zwei funktionierende Toiletten!
Vier Tage lang liegt ein kranker Mann, der unbedingt Cortison braucht, in unserem Hotel. Laut „Meyers Weltreisen“ ist Hilfe, ein Taxi, schon unterwegs, um ihn abzuholen. Es kommt bloß nie an. Vertröstungen am laufenden Band.
Die Nachrichten aus Deutschland und die Realitäten vor Ort sind zwei völlig verschiedene Schuhe.
Wir erfahren von Hotelbesitzern, die sich nach der ersten Welle mit ihrer Familie absetzen und ihre Gäste im Stich lassen, von Hotelmanagern, die sich weigern, die Safes zu öffnen, von Reiseleitern, die sich als erste fluchtartig absetzen, ohne sich um ihre Schäflein zu kümmern, vom Wachpersonal der Hotels, das den Plünderern seelenruhig zusieht.
Und dann lesen wir die verlogene, pathetische Propaganda der Regierung in den lankanischen Zeitungen und sehen geschönte Berichte im Fernsehen. Wir erfahren, wie die Regierung versucht, die Tamilengebiete von den Hilfslieferungen abzuschneiden – wir könnten kotzen.
Am 2. Januar 2005 können wir Sri Lanka verlassen. Wir werden an viele mit großer Dankbarkeit zurückdenken und auch weiterhin in Kontakt bleiben. Aber an viele werden wir auch mit verhaltener Wut denken, wenn wir uns an diese Tage erinnern.
Die Reste unserer „Pension“, vom Strand her gesehen.
Das davor gebaute Restaurant ist völlig zerstört. Im Müll dieses Bildes suchten wir nach Dingen, die uns gehörten.
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